31. August 2001
Buchauszug

Cees Nooteboom      
Die folgende Geschichte
Suhrkamp Taschenbuch 2500

Ich zog mich an und ging an Deck. Sie waren alle da, es kam mir vor wie eine Verschwörung. Sie standen um Captain Dekobra herum, der mit einem Fernglas den Himmel absuchte. Es konnte keinesfalls dieselbe Nacht sein, denn es gibt Nächte, in denen die Sterne es darauf angelegt haben, uns Angst einzujagen, und diese war eine davon. So viele wie in dieser Nacht hatte ich noch nie gesehen. Ich hatte das Gefühl, als könnte ich sie durch das Geräusch der See hindurch hören, als riefen sie uns, verlangend, wütend, höhnend, durch das Fehlen allen sonstigen Lichts standen sie wie in einer Halbkuppel über uns, Lichtlöcher, Lichtstaub, lachten über die Namen und Zahlen, die wir ihnen gegeben hatten in jener späten Sekunde, als wir erschienen waren. Sie wußten selbst nicht, wie sie hießen, welche albernen Gestalten unsere beschränkten Augen einmal in ihnen erkannt hatten, Skorpione, Pferde, Schlangen, Löwen aus brennendem Gas, und darunter wir, mit diesem unausrottbaren Gedanken, wir seien der Mittelpunkt, und tief unter uns noch so eine geschlossene Kuppel, so daß uns ein sicherer, runder Schutz umgab, der seine Gestalt nie verändern würde.
Das Meer glänzte und wogte, ich hielt mich an der Reling fest und sah zu den anderen. Zu beweisen war nichts, aber sie hatten sich verändert, nein, sie waren schon wieder verändert. Manche Dinge waren nicht mehr da, Linien fehlten, immer sah ich, ganz kurz, bei einem den Mund nicht, oder ein Auge, für den Bruchteil einer Sekunde war ihre Erkennbarkeit verschwunden, dann sah ich den Körper des einen in dem des anderen, als hätte eine Demontage unserer Festigkeit eingesetzt, und zugleich verstärkte sich der Glanz dessen, was sichtbar war, wenn es nicht so idiotisch klingen würde, hätte ich gesagt, daß sie strahlten. Ich hielt die Hände vor die Augen, sah jedoch nichts anderes als meine Hände.
Mir passieren nie Wunder und somit gab es keinerlei Grund dafür, daß die anderen mich so seltsam ansahen, als ich nähertrat.
"Siehst du den Jäger?" sagte Captain Dekobra zu Alonso Carnero. "Das ist Orion." Der große himmlische Mann war leicht nach vorne gebogen. "Er ist auf der Jagd, er späht. Aber er ist vorsichtig, denn er ist blind. Siehst du diesen hellen, strahlenden Stern dort zu seinen Füßen, vor ihm? Das ist Sirius, sein Hund. Wenn du hier durchschaust, kannst du sehen, wie er atmet."
Der Junge nahm das schwere Fernglas und schaute lange schweigend hindurch.
"Jetzt gehst du nach oben, an seinem Gürtel entlang, Alnilam, Alnitak, Mintaka" - er sprach die Worte wie eine Beschwärung - "dann kommst du zu seiner rechten Schulter, Ibt Al Jakrah, die Achsel, das ist Betelgeuse, vierhundermal so groß wie die Sonne ..."
Alonso Carnero ließ das Fernglas sinken und sah Dekobra an. Da war es wieder: Die dunklen Augen starrten in die eisblauen, zwei Formen des Sehens, die sich ineinanderbohrten, keine Gesichter mehr, nur noch Augen, für den Bruchteil einer Sekunde, und dann floß die Form ihres Gesichts in der nächtlichen Luft wieder zurück. Die anderen sahen es nicht oder sagten nichts. Auch ich sagte nichts. Vierhundermal so groß wie die Sonne, das hatte Maria Zeinstra mir auch erzählt, ich hatte meine Unschuld bereits verloren. Sie wußte alles, was ich nicht wissen wollte. Mit diesen Schnapsgläsern, durch die ich auf die Welt schauen mußte, war ich sowieso nicht mit dem nächtlichen Himmel vertraut, doch den Jäger konnte ich auch so erkennen, ich wußte, wie er zum Ende der Nacht hin auf die noch schlafende Welt klettert, für mich war er der Verbannte aus dem neunten Buch der Odyssee, der Geliebte der rosenfingrigen Morgenröte, ich wollte nicht wissen, wie heiß oder wie alt seine Sterne waren und wie weit entfernt er war.
"Dann bleib eben dumm."
Ich hörte ihre Stimme neben mir, aber sie ist nicht da.
"Was hast du davon, die Welt so zu kennen, wie du sie kennst?" hatte ich gefragt. "Diese lächerlichen Zahlen, die uns mit ihren Nullen erschlagen?"
Erstaunen. Kopf schief. Rotes Haar hängt wie eine Fahne zur Seite, Orion ist im Tageslicht schon fast erloschen.
"Wie meinst du das?"
"Zellen, Enzyme, Lichtjahre, Hormone. Hinter allem, was ich sehe, siehst du immer etwas anderes."
"Weil es da ist."
"Na und?"
"Ich will hier nicht blind auf der Erde herumlaufen, das eine Mal, das ich hier bin."

....

"Castor und Pollux", hörte ich den Captain sagen. Wirklich, es schien, als wollte mich jeder in meine Vergangenheit zurückholen. Die Schultafel des Himmels war mit Latein beschrieben, und ich war kein Lehrer mehr. "Orion, Taurus, dann hoch zu Perseus, Auriga ..." Ich folgte der Hand, die zu dem Bildern deutete, die jetzt, wie wir sanft zu schwanken schienen. Irgendwann einmal, sagte der Captain, würden diese Bilder aufgelöst werden, zerpflückt, über den künftigen Himmel verstreut. Was sie zusammengehalten hatte, war unser zufälliges Auge in den letzten paar Jahrtausenden, das, was wir in ihnen hatten sehen wollen. Sie gehörten genausowenig zueinander wie Spaziergänger auf den Champus Èlysèes, diese Konstellationen waren Momentaufnahmen, nur dauerten dies Momente für unsere Begriffe reichlich lang. Nach wiederum einigen tausend Jahren würde der Große Bär sich aufgelöst haben, würde der Schütze nicht länger schießen, ihre Einzelsterne würden eigene Wege verfolgen, ihre trägen Bewegungen würden die Bilder, wie wir sie kannten, zum Verschwinden bringen, Boötes würde den Bären nicht mehr bewachen, Perseus würde nie mehr Andromeda von ihrem Felsen befreien, Andromeda würde ihre Mutter Kassiopeia nicht mehr erkennen. Natürlich würden neue, ebenso zufällige Konstellationen entstehen, doch wer würde ihnen Namen geben? Die Mythologie, die meinLeben beherrscht hatte, würde dann unwiderruflich ungültig sein, das war sie schon jetzt, für die Welt wurde sie eigentlich nur noch durch diese Konstellationen am Leben erhalten. Namen enstehen nur, wenn etwas noch lebt. Weil dieses Sternbild noch da war, wurden die Menschen gezwungen, über Perseus nachzudenken, wußten sie noch, wie der Captain, daß er das abgeschlagene Gorgonenhaupt der Medusa in der Hand hielt und daß es ihr böses Auge war, das uns zublinzelte, bösartig, höhnisch, zum letztenmal gefährlich.
"Der Himmelsteich", sagte Professor Deng.
Wir sahen ihn an. Er deutete auf Auriga, den Wagenlenker. Ein Wagen, ein Teich. Er sprach sehr leise, sein Gesicht schien zu leuchten. Mir fiel auf, wie sehr er Pater Fermi ähnelte. Sie mußten beide gleich alt sein, aber alt war nicht mehr die Kategorie, mit der sich ihre Leben beschreiben ließen. Sie befanden sich jenseits der Zeit, durchsichtig, entrückt, uns weit voraus.
 

"Ich tränkte meine Drachen im Himmelsteich,
und band ihr Zügel an den Fu-Sang-Baum.
Ich brach einen Zweig vom Ruo-Baum,
um die Sonne damit zu schlagen ..."
"Sehen sie", sagte er, "wir gaben den Sternen unsere eigenen Namen. Das war so früh in der Geschichte, wir kannten ihre Mythologie noch nicht." Seine Augen funkelten ironisch. "Es war zu kurz, es wäre auch noch zu kurz gewesen, wenn es Tausende von Jahren gedauert hätte ... mein ganzes Leben habe ich damit verbracht."
"Und das Gedicht?" fragte ich. "Bei uns zogen Pferde über den Himmel, keine Drachen."
"Es sit von Qu Yuan", sagte Professor Deng, "aber den werden Sie wohl nicht kennen. Einer unserer Klassiker. Älter als ihr Ovid."
Es schien, als entschuldigte er sich. "Auch Qu Yuan wurde verbannt. Auch er beklagt sich über seinen Fürsten, über die üblichen Charaktere, mit denen er sich umgibt, über den Verfall am Hof."
Er lachte. "Auch bei uns wurde die Sonne über den Himmel gezogen, nur war der Wagenlenker kein Mann wie ihr Phoibos Apollon, sondern eine Frau. Und wir hatten nicht eine Sonne, sondern zehn. Sie schliefen in den Zweigen des Fu-Sang-Baums, eines riesigen Baums am westlichen Ende der Welt, dort, wo ihr Atlas steht. Bei uns sprachen die Dichter und Schamanen über die Konstellationen, als gebe es sie wirklich. Ihr Auriga ist unser Himmelsteich, ein tatsächlich existierender See, in dem der Gott sein Haar wäscht, genauso wie es auch ein Lied gibt, in dem der Sonnengott zusammen mit dem Großen Bären Wein trinkt ..."
Wir blickten auf diese Stelle am Himmel, die jezt plötzlich ein See geworden war, und ich wollte noch sagen, daß Orion für mich auch immer ein echter Jäger gewesen sei, aber plötzlich hatte jeder etwas zu erzählen.

© Cees Nooteboom 1991

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