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Ada Diekmann
schreibt täglich für den Salon im Net. Letzte Kolumne
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Ruhrtriennale
DIE ZEIT

Salon im Net, den 30. Mai 2004
ein Online Projekt von Ilona Duerkop
Gekürztes Interview mit Peter Brook. Geboren 1925 in London, einer der großen, philosophischen Regisseure des Welttheaters.
In Paris leitet er das Centre International de Creations Theatrales; dort hat Brook auch sein eigenes Theater, die Bouffes du Nord.

Prinzip Hilfe
Von Afrika nach Duisburg – der Regisseur Peter Brook gastiert bei der Ruhrtriennale.
Ein Gespräch von Peter Kümmel*

Mr. Brook, bei der Ruhrtriennale werden Sie in Duisburg ein Stück uraufführen, das uns ins traditionelle, animistische Afrika zurückführt: „Tierno Bokar“.** Was fasziniert Sie an der afrikanischen Kultur?
Es besteht dort noch – manchmal in Spuren – eine Qualität des menschlichen Zusammenlebens, die im Westen verloren gegangen ist. Als die europäischen Kolonisatoren in Afrika ankamen, sahen sie, dass die Einheimischen nackt waren und in Lehmhütten wohnten. Die Neuankömmlinge schlossen, dass es sich um Primitive handeln müsse. Da hatten sie in Asien anderes gesehen, großartige Gebäude, eine hochstehende Kultur, die zu berauben sich lohnte. Was die Europäer nicht erkannten und bis heute nicht wirklich verstehen, ist, dass die Afrikaner etwas entwickelten, das so komplex und hoch entwickelt war wie die Kultur Asiens. Die Architektur der Afrikaner ist die Architektur des menschlichen Zusammenlebens – das komplexe Gebilde des sozialen Umgangs. Es geht in Afrika nicht um Strukturen, sondern um behavior.
Haben wir Europäer diese Lebenskunst noch beherrscht, oder haben wir sie nur verloren?
Natürlich existierte diese Kunst in jedem Teil der Welt. Aber die Zeit bewegt sich in Zyklen. Und derzeit bewegt sich der Westen auf rasante Weise kulturell abwärts. Die Qualität der menschlichen Beziehungen geht rapide verloren. Es herrscht eine Weltkultur des Kommerzes. Diese Entwicklung lässt sich nicht stoppen, so wenig, wie man einen rasenden Zug mit bloßer Hand stoppen kann. All das führt dazu, dass im Westen viele Menschen noch reicher werden und noch länger gesund bleiben; aber der Preis dafür ist die Degradierung des Zusammenlebens. Die Familien werden kleiner, die Paarbeziehungen zerbrechen, es ist ein großer Schrumpfungsprozess.
In Ernst Blochs „Prinzip Hoffnung“ heißt es sinngemäß: Die wahre Genesis ist nicht an Anfang, sondern am Ende der Geschichte; wir leben noch in einer Art prähistorischer Zeit.
Das ist der Gedanke eines hoffnungsvollen Mannes. Ich selber bin weder optimistisch noch pessimistisch. Ich versuche nur zu sehen, was da ist. Eine berühmte Zeile von T.S. Elliot heißt „The end is our beginning“. Vielleicht ist das wahr, dennoch weiß ich nicht, ob es Ihnen oder mir hilft zu spekulieren, was in der Zukunft, am Ende der Geschichte passieren könnte. Das Einzige, was uns jetzt interessiert, ist das, was uns jetzt hilft. Und die entscheidende Frage lautet nicht: Wie erlangen wir Hoffnung? Sondern: Wie kommt es, dass wir die Hoffnung immerzu zerstören? Dass wir sie verraten? Auf Hoffnung zu hoffen hat keinen Sinn. Es ist wie mit der Aufforderung an einen Agnostiker: Du musst glauben. Das bewirkt das Gegenteil. Aber wenn man sich selbst genau erforscht – was ist dein größtes Hindernis? Was hält dich davon ab, das zu finden. Was du dir am sehnlichsten wünschst? -, dann wird die Hoffnung sich zeigen.
Stellt das Theater diese Fragen?
Das Großartige am Theater ist, dass am Ende des Abends ein paar wenige Leute mit ein bisschen mehr Mut nach Hause gehen. Mehr kann es nicht erreichen.
(…)
Das wahre politische Theater, das ich suche, vermag im selben Moment beides zu zeigen: das Ideal und den Verrat am Ideal; die Pervertierung der Idee und die Idee selbst, die Zerstörung der Vision und den Glanz der Vision. Auf der Bühne muss beides aufscheinen, das ist die idealistische Natur des Theaters. Wenn das Theater nur das Ideal zeigt, wird es niemanden berühren, weil es weltfremd ist. Wenn das Theater nur die Zerstörung zeigt, den Missbrauch, die Korruption, ist das ein Akt der Gewalt gegen das Publikum.
(…)
Wir leben von den Wahrheiten des Augenblicks. Und das ist auch dem Theater eingeprägt: die Möglichkeit, im selben Augenblick zu glauben und nicht zu glauben. Echtes Theater hat diese Qualität. Der Schauspieler glaubt absolut an das, was er da gerade tut und zugleich glaubt er nicht im Mindesten daran. Dasselbe gilt fürs Publikum. Es ist gebannt von den Geschehnissen auf der Bühne und versucht sich gleichzeitig vor den Grippeviren des Sitznachbarn zu schützen. Glauben und Nichtglauben im selben Moment – darum dreht ich das ganze Theater. Deshalb kann es für Momente ein wahreres Bild des Lebens geben als das Leben selbst.
Was halten Sie von der Meinung, die ganze Welt sei eine Bühne und das professionelle Theater also überflüssig?
In den sechziger Jahren war das ein gängiger Satz: Wozu brauchen wir Bühnen, wenn die Straßen voll sind von Dramen? Nun, das ist eben nicht wahr. Im wahren Leben sind wir viel zu abgelenkt, zu zerstreut. Theater versetzt uns in die Lage, die Dinge genauer zu sehen mittels seiner Doppelbelichtung, dem Ineins von Glaube und Nichtglaube.
Was ist die Aufgabe eines Menschen, wenn er denn eine hat?
Jeder Mensch navigiert im Leben zwischen Glaube und Nichtglaube, Hoffnung und Verzweiflung. Es ist unsere Aufgabe, unseren Mitnavigatoren auf ihrer Reise beizustehen.
Aber es ist eine Reise ins Dunkle?
Ich habe mich lange mit dem Mahabharata-Mythos der Hindus beschäftigt. Er besagt, dass die Geschichte der Menschheit einem Zyklus folgt. Sie begann in einem goldenen Zeitalter; dann vollzog sich ein kontinuierlicher Abstieg, der uns in ein dunkles Zeitalter führte. Eine sehr pessimistische Vermutung, aber wenn wir uns umsehen, stellen wir fest: Sie stimmt. Es stimmt aber auch, dass dieser Zyklus der Auf- und Abstiege sich im Kleinen täglich ereignet und in jedem Augenblick präsent ist. In der Morgendämmerung öffnet sich das Feld der Millionen Möglichkeiten, und es lieg an uns, ob wir sie am Abend genützt oder versäumt haben. D.H. Lawrence schrieb ein berühmtes Buch mit dem Titel Morning in Mexico: Jeder Morgen in diesem Land ist erfüllt von Hoffnung, aber aufgrund der pessimistischen, tragischen Natur der mexikanischen Seele befinden sich die Mexikaner am Ende des Tages in tiefer Melancholie und Verzweiflung; und sie ertränken ihre Seele in Tequila. Jedoch am nächsten Morgen – phhh (Brook bläst Luft über seine leere Handfläche) – beginnt alles von neuem- Der Zyklus setzt sich fort, er offenbart sich in jedem Atemzug. Natürlich ist es sehr schwer, im historischen Bewusstsein zu leben, dass wir uns weiter ins dunkle Zeitalter hineinbewegen. Und doch: Man muss darin seinen Weg finden. Es geht um die Entdeckung des positiven Nichts. Mit Hilfe der Kunst, des Austausches zwischen Menschen, der Arbeit.
(...)
Haben Sie Achtung vor dem Akt des Suizids?
Es ist die ultimative Anmaßung eines menschlichen Wesens, sich für schlauer zu halten als die Schöpfung, die Schöpfung für misslungen zu erklären und sich selbst zu töten. Ist der Suizid ein Akt der Demut oder der Arroganz? Für mich ist er der finale Ausdruck der Arroganz.

* Das ungekürzte Interview ist nachzulesen in der Sonderbeilage DIE ZEIT;
ZEITKULTUR SOMMER, Nr. 20
59. Jahrgang
Mai 2004

** Peter Brooks Inszenierung „Tierno Bokar“ basiert auf einem Werk des malischen Schriftstellers Amadou Hampaté Bâ; sie wird am 6. Juli im Rahmen der Ruhrtriennale uraufgeführt. Spielstätte ist die Gebläsehalle im Landschaftspark Duisburg-Nord. Ticket-Hotline: 0700/20 02 34 56; www.ruhrtriennale.de