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08. Juni 2002
Wunschkind

Sie sind lesbisch, sie sind taub - und wollten Kinder, die nicht hören können. Ein tauber
Samenspender machte es möglich. Der Fall wirft die Fragen auf, was Eltern wünschen dürfen und
was Behinderung ist.

von Martin Spiewak & Astrid Viciano  Die Zeit Nr. 18/2002


   Als Gauvin fünf Monate alt war, brachten ihn seine Eltern voller Hoffnung zum Spezialisten. Der Mediziner
   verdrahtete den Kopf des Säuglings mit Elektroden und fing an, sein linkes Ohr mit klickenden Lauten zu reizen. Er
   begann leise, erhöhte den Pegel, drehte lauter und lauter, bis das Geräusch 95 Dezibel erreichte. Doch das Kind
   blieb ungerührt. Auch das rechte Ohr erwies sich als fast funktionslos. Erst ab 75 Dezibel reagierte das Gehirn auf
   den Lärm.

   Gauvins Eltern waren zufrieden. Ihre Mühen hatten sich gelohnt: Der Junge ist wie sie selbst - nahezu vollständig
   taub.

   Bereits zum zweiten Mal haben Sharon Duchesneau und ihre lesbische Partnerin Candace McCullough in der
   genetischen Lotterie ihr Glückslos gezogen. Vor fünf Jahren kam Tochter Jehanne zur Welt. Auch damals standen
   die Chancen fünfzig zu fünfzig, dass das Mädchen das gewünschte Merkmal der Gehörlosigkeit trägt. Und auch
   damals konnte Sharon Duchesneau glücklich in das Geburtsbuch schreiben: "11. Oktober 1996 - keine Antwort bei
   95 Dezibel - taub!"

   Behinderung als Auszeichnung

   Der Plan des gehörlosen Paares war aufgegangen - trotz Hindernissen. Als Sharon Duchesneau, eine
   Sozialarbeiterin aus Bethesda in Maryland, sich an die örtliche Samenbank wandte, hatte sie zuerst eine Abfuhr
   erhalten. Nicht dass sie homosexuell ist, disqualifizierte sie als Kundin. Lesbische Paare gehören zu den
   Hauptklienten amerikanischer Samendepots. Doch ihre Bitte um das spezielle Sperma eines Gehörlosen blieb
   erfolglos. Also musste ein Freund einspringen, gehörlos in der fünften Generation. Vergangenen November hatte
   die Zeugungshilfe zum zweiten Mal Erfolg, auch wenn der Weg zum Wunschkind schwieriger war als in normalen
   Fällen.

   Doch was heißt normal? Mehr als andere Nachrichten aus der schönen neuen Welt der modernen Fortpflanzung
   bringt der Fall Gauvin und Jehanne herkömmliche Vorstellungen ins Wanken: Was ist normal oder abnormal,
   gesund oder krank, erlaubt oder ethisch zu verurteilen? Zudem wirft die Fallgeschichte, erzählt in einer langen
   Reportage der Washington Post, ein grelles Licht auf eine Minderheit, die ihre Behinderung als Auszeichnung
   versteht. Ihre Vertreter fordern vollständige Anerkennung und Teilhabe - und sei es am neumodischen Recht, sich
   Kinder nach dem eigenen Bild zu formen.

   Insofern stellen die "ersten tauben Designerkinder", wie die amerikanische Presse sie nennt, alle Debatten über die
   eugenischen Gefahren der neuen Reproduktionstechniken auf den Kopf: Statt krankes Leben auszusondern, wurde
   hier behindertes Leben bewusst angestrebt. Der perfekte imperfekte Mensch. Die ungewöhnliche
   Zeugungsgeschichte klingt, als hätte sie ein Ethikprofessor extra ersonnen, um mit einem besonders abstrusen Fall
   den moralischen Scharfsinn seiner Studenten zu testen. Doch sie ist kein Planspiel, sondern schlichte Realität, was
   selbst in den USA, die in Sachen Reproduktionsmedizin einiges gewöhnt sind, zu heller Aufregung führt.

   Der Bioethiker Arthur Caplan verurteilte die Eltern, weil sie dem Kind mit dem Hören zugleich eine wichtige Chance
   nähmen. Andere dagegen verteidigten das lesbische Paar und führten dessen "reproduktive Freiheit" ins Feld, ein
   in den USA legendäres Argument, das von der Leihmutter bis zur Geschlechtsselektion fast alles erlaubt, was
   Paare wollen.

   Doch eigentlich wünschte sich Sharon Duchesneau nur, was alle Eltern möchten: ein Kind, das die Welt aus ihrer
   Perspektive sieht und ein Leben führt, wie "wir es genießen". Denn weder sie selbst noch ihre Lebensgefährtin
   oder all ihre tauben Freunde empfinden das körperliche Defizit, das sie eint, als Handikap. Sie sind Teil der
   Emanzipationsbewegung amerikanischer Gehörloser und nennen sich Deaf - Taub, großgeschrieben wie America
   oder Germany.

   Der Eigenname ist Programm. Anders als die tauben Menschen mit dem kleinen t, die versuchen, sich in die
   hörende Gesellschaft mittels Lippenlesen und Lautsprache zu integrieren, verstehen sich die Bewohner dieses
   Gehörlosistans als kulturelle Minderheit, die sich gegen die Mehrheit behaupten muss. Ihre Basis ist die
   gemeinsame Ausdrucksform, die American Sign Language (ASL). Sie ist ein vollwertiges Idiom mit breitem
   Wortschatz und eigener Grammatik - wie Gebärdensprachen in anderen Ländern auch. Sie erlauben den
   Gehörlosen, sich ohne jedes Problem untereinander zu verständigen. In ihrer Gebärdensprache erzählen sie Witze,
   demonstrieren oder singen im Chor. Viele Gebärdensprachen haben ihr eigenes Theater und ihre eigene Poesie,
   vorgetragen mit Händen, Gesicht und Körper statt mit Kehlkopf und Zunge. In dieser stillen Welt leben Sharon
   Duchesneau und Candace McCullough zufrieden. Sprache, Musik, Vogelgezwitscher: Sie vermissen nicht, was sie
   nie gekannt haben.

   Der Stolz auf ihr Anderssein und ihre Kultur ist groß. Das hat viel mit Bildung zu tun, die sich im Fall
   amerikanischer Gehörloser in einer Institution versammelt: der Gallaudet University, der einzigen Hochschule für
   Gehörlose weltweit. 2000 Studenten besuchen das College in Washington, das Mitte des 19. Jahrhunderts
   gegründet worden ist. Hinter den Backsteinmauern gedieh hier in den vergangenen 20 Jahren eine kleine, aber
   gebärdenmächtige Schicht Intellektueller. Die moisten Aktivisten sind von Geburt an taub, viele haben bereits
   gehörlose Eltern.

   Auch Sharon Duchesneau und Candace McCullough besuchten das "Harvard der Tauben" genannte College.
   Hier haben sie sich kennen und lieben gelernt. Hier erfuhren sie, was gehörloses Selbstbewusstsein ("deaf pride")
   ist. Das Studium in Gallaudet habe ihr gesamtes Leben verändert, erinnert sich Duchesneau, "meine Hoffnungen,
   meine Träume, meine Zukunft, alles". Hier in Gallaudet verstand sie jeder. Hier war sie erstmals nicht mehr
   behindert, sondern Angehörige einer Schicksalsgemeinschaft, die es nach Ansicht ihrer Mitglieder zu erhalten und
   zu pflegen gilt - im Zweifelsfall auch durch gesteuerte Fortpflanzung.

   Die US-Wissenschaftlerin Dena S. Davis zitiert in ihrem Buch Genetic Dilemmas Umfragen unter amerikanischen
   Gehörlosen zum Thema Kinderwunsch. Demnach ist es den meisten egal, ob ihr Kind hören kann oder nicht. Doch
   15 bis 20 Prozent der Befragten geben an, sich explizit tauben Nachwuchs zu wünschen, um besser mit dem Kind
   kommunizieren zu können. Die Autorin erwähnt auch den Fall eines Paares, das seinen speziellen Kinderwunsch
   mit einer Präimplantationsdiagnostik verwirklichen möchte. Medizinisch wäre das möglich. Bislang haben
   Wissenschaftler 70 Gene identifiziert, die zum Hörverlust führen. Eine der Genmutationen ist vermutlich in der
   Hälfte aller Fälle für angeborene Taubheit verantwortlich. Angeblich soll es bereits Fälle einer positiven
   Behindertenselektion gegeben haben, bei der Ärzte nach Wunsch der Eltern gesunde Embryonen verwerfen und
   kranke auswählen. Bestätigt sind sie nicht.

   Sharon Duchesneau und Candace McCullough haben weder Embryonen vernichtet noch abgetrieben. Nicht
   einmal ein Arzt war im Spiel, als Duchesneau sich das Sperma einführte. Steht ein Spender bereit, ist diese simple
   Zeugungsmöglichkeit bei lesbischen Paaren verbreitet. Da das Taubheitsgen oft nicht dominant ist, bestand zwar
   durchaus die Möglichkeit, ein hörendes Kind zu bekommen. Durch den tauben Spender haben sie die Chance auf
   ihr Wunschkind jedoch erhöht.

   Im Ghetto der Sonderpädagogik

   Beide finden an ihrem Tun nichts Verwerfliches. Schließlich wählten auch andere Eltern einen Samenspender nach
   bestimmten körperlichen Merkmalen aus, argumentieren sie. Möglich, dass ihr Kind außerhalb der Gemeinschaft
   der Tauben mehr Probleme haben werde, als wenn es hören könnte. Doch auch Schwarze hätten es schwerer als
   Weiße, und niemand rege sich auf, wenn ein schwarzes Paar einen schwarzen Samenspender wählt.

   "Warum ist es ein Schock, wenn behinderte Paare das Gleiche möchten wie nichtbehinderte: Kinder, die ihnen
   ähneln?", fragt auch Theresia Degener, Rechtsprofessorin an der evangelischen Fachhochschule Bochum.
   Degener, die bis September 2001 in der Enquete-Kommission des Bundestages Recht und Ethik in der modernen
   Medizin saß, kann das Verhalten des Paares verstehen - und akzeptieren. Ihr Wunsch sei legitim, ihr Vorgehen falle
   "in die Kategorie erlaubte Reproduktionsautonomie".

   Degener, selbst contergangeschädigt, versteht sich als Wissenschaftlerin und politische Aktivistin zugleich. In
   Bochum lehrt die Juristin Disability-Studies, jenen Forschungsansatz, der als theoretischer Überbau zum Fall der
   tauben Designerkinder verstanden werden kann. Die Grundannahme dieser neuen, aus den USA und England
   stammenden Forschungsrichtung lautet: Behinderung ist keine medizinische Kategorie, sondern ein
   gesellschaftliches Konstrukt. Degener spricht vom "Terror der Normalität", von der "Dominanzkultur" und von
   Behinderten "als einer unterdrückten sozialen Minderheit".

   Im Grunde verwissenschaftlichen die Disability-Studies eine frühere Kampfthese der Behindertenbewegung, die
   mittlerweile auch bei der Aktion Mensch (früher Aktion Sorgenkind) zum Credo gehört: "Behindert ist man nicht.
   Behindert wird man." Diesen Lehrsatz buchstabieren die Disability- Studies multidisziplinär durch:
   Literaturwissenschaftler untersuchen die Repräsentation des körperlich Anderen in der Kunst, Historiker die Rolle
   Behinderter in der Geschichte, Juristen ihre rechtlichen Benachteiligungen. Damit versuchten die neuen
   Behindertenwissenschaften den Ausbruch aus dem "Ghetto der Sonderpädagogik und der
   Rehabilitationswissenschaft", so Degener.

   In den USA bietet eine Hand voll Universitäten spezielle Studiengänge zum Thema an, einige Dutzend
   Wissenschaftler haben sich dem Thema verschrieben. Viele von ihnen sind selbst behindert. Auch das
   kennzeichnet die neue Richtung: Ähnlich wie bei den Gender-Studies gehört Parteilichkeit aus persönlicher
   Betroffenheit bei vielen Forschern zum Programm. "Bisher hatten Nichtbehinderte die Definitionsmacht, was gut
   und schlecht ist für Behinderte", sagt Theresia Degener. Das soll sich ändern. Vor zwei Wochen hat sich eine
   Arbeitsgemeinschaft vornehmlich behinderter Wissenschaftler gegründet, welche die Disability-Studies in
   Deutschland etablieren möchte. Zwei Professorinnen sind dabei, der Rest gehört meist zum akademischen
   Mittelbau. In den USA besteht eine ähnliche Organisation bereits seit 20 Jahren. Dort haben Behinderte schon
   länger Zugang zu höherer Bildung.

   Der Reiz des Machbaren

   Eine Bewegung Gehörloser wie in den USA gibt es hierzulande erst in Ansätzen. Doch ihr Selbstbewusstsein
   wachse, sagt Ulrike Gotthardt. Die 43-jährige Medizinerin aus Lengerich, die taub zur Welt kam, gehört zu den
   wenigen Gehörlosen, die eine Schule für Hörende besuchten und eine normale Universität. Früher passten sich die
   Gehörlosen der hörenden Welt an, sagt Gotthardt, bemühten sich, möglichst wenig aufzufallen - und blieben
   dennoch oft Außenseiter, weil sprechen, ohne zu hören, selten perfekt gelingt. Heute sei das anders, meint die
   Medizinerin. Auch unter deutschen Gehörlosen verbreite sich die Idee, nicht behindert zu sein, sondern einer
   sprachlichen Minderheit anzugehören. Das geht in extremen Fällen so weit, dass Gehörlose mit Hörenden nur über
   einen Dolmetscher kommunizieren, obwohl sie von den Lippen lesen könnten.

   Als Kind habe sie sich nie gewünscht, hören zu können, sagt Ulrike Gotthardt. Ihre Tochter kann hören. "Ich hätte
   mich aber ebenso über ein gehörloses Kind gefreut", betont die Medizinerin. Dennoch kennt sie Paare, die
   enttäuscht waren, als ihr Nachwuchs nicht taub zur Welt kam. Insofern könne sie das amerikanische Paar, das ein
   gehörloses Kind gezeugt hat, gut verstehen, sagt sie - auch wenn es ein ungewöhnliches Vorgehen sei.

   In deutschen Behindertenkreisen existiert die Diskussion seit längerem, ob es legitim sei, sich ein behindertes Kind
   zu wünschen - und wie weit man gehen dürfe, diesen Wunsch zu verwirklichen. Immer wieder gibt es Fälle von
   körperlich behinderten Eltern, die ein Kind erwarten und sich trotz des Drucks von Ärzten keiner
   Pränataldiagnostik unterziehen, auch auf die Gefahr hin, dass ihr Kind ebenso behindert sein wird. Doch wie wäre
   der nächste Schritt zu bewerten: Darf eine behinderte Mutter nach einer Pränataldiagnostik ein gesundes Kind
   abtreiben, weil es im umgekehrten Fall einer nichtbehinderten Frau erlaubt ist, einen geschädigten Fötus zu töten?

 
   Bislang sind solche Beispiele Gedankenspiele. Doch sie zeigen eins: Leid ist subjektiv. Was der eine als
   Behinderung versteht, sieht der andere als Lebensstil. Für die Diskussion um neue reproduktionsmedizinische
   Techniken wie die Präimplantationsdiagnostik (PID) hat das Folgen. Derzeit diskutieren Mediziner, Politiker und
   Ethiker noch, ob sich die Anwendung des Genchecks auf bestimmte Leiden beschränken lässt und, wenn ja, auf
   welche. Der Fall Gauvin und Jehanne gibt die Antwort: Langfristig wird es keine Grenzen geben. Jede Technik
   tendiert dazu, ihren Abnehmerkreis zu erweitern. "Wissen Sie", sagte Sharon Duchesneau der Reporterin der
   Washington Post, "wenn wir die Möglichkeit haben, warum sollen wir sie nicht nutzen?"
 
  © 2002 Astrid Viciano &  Martin Spiewak

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