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07. September 2002
Graf Battistello von Luang Prabang
der zweite Brief

Meine liebe Freundin Claire

Meine Gedanken sind bei ihnen und so liegt es Nahe, dass ich den kleinen Kasten mit meinem persönlichen Briefpapier, aus meinem Schreibtisch, in der Bibliothek, nehme und nun vor mir ein weißes Blatt habe.
Die Feder kratzt ein wenig auf dem Papier und besänftigt meine Ungeduld. Gewählt und geordnet sollen meine Worte in ihre Hände gelangen.
Ich fühle mich einsam. Heute am Nachmittag habe ich ein Foto, von dem Mann aus dem Eis gesehen. Vor mehr als 5.000 Jahren, legte er sein Haupt nieder. Eine so lange andauernde Einsamkeit. Der Gedanke ist mir unerträglich und lässt mich, nun schon seit Stunden, nicht mehr los.
Wie gerne hätte ich neben ihm gesessen? Wie gerne hätte ich mehr von ihm gewusst, als einzig diesen Körper zu betrachten. Seine Haare raubten die Zeit. Ein paar Pfeile, ein Speer, ein Jagdmesser. Ein kleiner Beutel aus Haut, mit Fleisch und Moos, dass er wahrscheinlich medizinisch nutzte.
War er auf dem Weg, um diese Medizin nach Hause zu bringen?
Von vielen Wissenschaftlern untersucht, betrachtet, fotografiert. 300, gar 400 Forscher, setzten seinem Körper zu. Eine Pfeilspitze, unter seinem Schulterblatt, blieb von all diesen Forschern unentdeckt. Als man sie entdeckte, war Ötzi wieder in den Schlagzeilen. So wurde auch ich wieder an den, in Einsamkeit, gestorbenen Mann erinnert, der 5.000 Jahre im Eis schlief.
Mir ist als könne ich seine letzten Gedankengänge hören, würde ich nur lange genug dieses Foto betrachten. Doch der Anblick erschüttert mich, beinahe so, als handelte es sich bei dieser Aufnahme um eine Fotografie, einer geliebten Person.
Verzeihen sie mir dieses Abschweifen, dieses Abgleiten in eine tiefe Gefühlswelt, die mir sonst verschlossen ist.
Möchte ich das mein Körper so lange überdauert?
Nein meine liebe Freundin, dass möchte ich nicht. Nach 5.000 Jahren kennt niemand meine Geschichte. Nur meine Haut, die noch so gut erhalten ist, interessiert die Menschen, vor denen ich in aller Nacktheit offen liege. Die einzige Sorge die sie kennen gipfelt in die Frage, ob man mich für weitere Untersuchungen auftauen sollte, und damit das Risiko eingehen soll, dass meine verstorbene Hülle vor ihnen zu Staub zerfällt oder nicht. Nicht einmal das wissen Sie sicher!
Sie spekulieren. Aufgrund der Dinge die er bei sich hatte, halten sie ihn für einen Stammesführer, kein einfacher Mann also. In ihren Augen macht es den Fund vielleicht noch Bedeutungsvoller. Ein wichtiger Mann seiner Zeit.
Verstehen sie mich nicht falsch, meine teure Freundin.
Ich weiß das Tasten im Dunkeln durchaus zu schätzen. Aus wie wenig, wir durch unsere Forscher, soviel erfahren. Sie arbeiten Gewißenhaft, ja, daran zweifel auch ich nicht. Vergleichen alle Fundstücke, mit ähnlichen Fundstücken aus dieser Zeit. Gewebeproben, werden nach genetischen Fingerabdrücken durchsucht. Ein Mann aus Südtirol, also.
Worüber sie alle nichts sagen können, ist: Wusste er das er sterben würde?
Ich glaube er wusste es nicht. Ich glaube er war am Ende seiner Kräfte und er spürte den sich rasch nähernden Winter. Aber als er seine Augen schloss, schloss er sie in der Gewissheit, am nächsten, frühen Morgen wieder zu erwachen und zu denen zu gehen, die auf seine Rückkehr warteten.
Er erwachte nie mehr. Sein toter Körper wurde vom Schnee bedeckt, der später zu Eis wurde.
Eine Kälte die er nicht mehr spürte. Längst wäre er, in diesen 5.000 Jahren vergessen, dazu bedarf es weit weniger Jahre! Von der Erde getilgt, wie Millionen, bis Heute!
Doch aus dem Schnee wurde Eis, ewiges Eis. Nein, bitte laßen sie zu das ich mich hier korrigiere: Beinahe ewiges Eis, denn 1981 taute das Eis auf und man  fand ihn und taufte ihn Ötzi. Ein Name den ich beleidigend finde, auch wenn er abgeleitet ist aus dem Gebiet, in dem man ihn fand.
Wir wissen nichts weiter, als das was wir Fakten nennen. Ich habe mich ein wenig in die Spekulation gewagt, die einzig meiner Phantasie entspringt.
Wir alle sind vergänglich und möglicherweise, ich ziehe es nun doch in Betracht, ist es ein kleines Wunder, wenn einer von uns Vielen, solange schlafen kann. Der Körper hat überdauert, nicht mehr und nicht weniger.
Auch wenn es wenig bleibt und niemand sich nach 5.000 Jahren noch an uns erinnern kann.

Meine liebe treue Freundin, mein Brief an sie muss hier Enden. Ich beginne mich in den Absätzen zu verfangen. Eines haben sie sicher wohl bemerkt, es waren nicht die Gedanken an sie, die mich an das Papier riefen. Es war die große Einsamkeit dieses Mannes im Eis, die mich erfasste und der ich Raum schaffen musste.
Im festen Glauben daran, dass sie mir diesen Egoismus nachsehen werden, verbleibe ich.

Ihr Graf Battistello von Luang Prabang

P.s.: Es regnet wieder und so passt sich nun auch der äußere Rahmen, der Stimmung die mich erfasst hat, auf das Trefflichste an.




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Graf Battistello von Luang Prabang schreibt seit 2002, seine nachdenklichen Briefe an Claire.
Die meiste Zeit lebt er in Berlin, in einer großzügigen Stadtvilla.
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