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 6. November 2002
Ich lese gerade
Nichts und Amen von Oriana Fallaci
Oriana Fallaci stammt aus Florenz und lebt, inzwischen 71 jährig in New York. Ihre Bücher wurden in 31 Sprachen übersetzt. Bei der Verleihung der Ehrendorktorwürde beschrieb der Rektor des Columbia College of Chicago sie als "eine der am meisten gelesenen und geliebten Autorinnen der Welt".
In Vietnam war Kriegsberichterstatterin, neben ihrer jornalistischen Arbeit schrieb sie: Nichts und Amen. Drei Mal reiste sie aus Vietnam ab, drei Mal kehrte sie wieder dorthin zurück.

Das Buch: (teilweise entnommen aus der Taschenbuchausgabe, erschien bei dtv, 1. Auflage Januar 1974)
“Das Leben was ist das?” Am Anfang des ungewöhnlichen Buches stellt ein kleines Mädchen diese Frage, die auch das Thema des Buches. Oriana Fallaci musste sie wieder und wieder stellen, als sie erlebte, - während die Menschheit auf dem Mond landete -,wie die Menschen sich gegenseitig töteten, so wie sie es schon seit Tausenden von Jahren tun. Bei ihrer Ankunft in Vietnam fand sie sich in Saigon sofort mit dem Drama einer Exekution konfrontiert und dem der offenen Schlacht von Dak To. Die Geschichte, die sie im Verlauf der Wochen, als Tagebuch, das sich an jenes kleine Mädchen richtet, ist eine Geschichte die auf ihre Erlebnisse, während des Vietnamkrieges aufbaut. Was dieses Tagebuch so lesenswert macht, ist das Oriana Fallaci nicht nur eine präzise Beobachterin ist, sondern auch eine Frau die ihr Erlebnisse schreiben kann und sich dabei nicht der journalistischen Sprache bedient, die bekanntlich aus einem Abstand zu den Geschehnissen berichtet, sondern sie benutzt eine Sprache, die offen für ihre Gedanken und Gefühle ist, bei all dem Schrecklichen und auch Schönen, dass sie in Vietnam erlebt. Sie erkennt, dass alles zusammengehört, Mitleid und Zorn, Grausamkeit und Nächstenliebe. Sie deckt den Wahnsinn der im Krieg liegt auf, „Nichts und Amen“ ist auch ein Antikriegsbuch, jedoch eines das nicht anklagt, sondern beschreibt. Nie findet man den erhobenen Zeigefinger, mit den manch ein Autor uns gerne quält, auch dies macht es besonders Lesenswert.
Ein Buch das so aktuell ist, wie die Kriege, die auf diesem Paneten nicht verschwinden werden.
Wer dieses Buch zur Hand nimmt, wird oft Denkpausen einlegen müssen, und es gerne tun.

Ich bin eine Leserin die mit dem Bleistift neben dem Buch liest. Selten habe ich so viele Anstreichungen gemacht und während diesem besonderen Bucherlebnis, habe ich, zu dem üblichen Bleistift, auch ein Lineal hinzu genommen. So entstanden Kästen, die ich leicht wieder finden kann.
Einigen meiner geehrten Salonbesucher ist diese Vorgehensweise, als Zettelkasten im Salon bereits gut bekannt.
Neugierig auf den Zettelkasten im Salon? Der Zettelkasten befindet sich hier und hier.
Die Zitate aus dem Buch von Oriana Fallaci möchte ich hier wiedergeben:

Zitate aus dem Buch: Nichts und Amen von Oriana Fallaci

(S. 7) ... mit den Rikschas, die leichthin, beim Treten der Pedale, mitten in den Verkehr tauchten, was hatte er zu tun mit den rasch dahintrippelnden Wasserverkäuferinnen, die ihre Ware auf Waagschalen an einer Bambusstange balancieren, was mit den zierlich-kleinen Frauen in ihren langen Gewändern und mit dem aufgelösten Haar, das ihnen hinten wie schwarze Schleier schaukelnd über die Schultern fällt, was mit den Fahrrädern, den Motorrädern, den Kindern, die Schuhcreme und Bürsten bei sich haben, im dir die Schuhe zu putzen, was mit den dreckigen schnellen Taxis? Im November herrschte in Saigon ein beinahe lustiges Chaos, weißt du. Im November 1967 kam man nach Saigon, weißt du, und merkte nicht viel vom Krieg.

(S. 7 f) Und ich dachte, dass in diesem Augenblick in der übrigen Welt mit Erbitterung über die Herzverpflanzungen polemisiert wurde, in der übrigen Welt fragte man sich, ob es Rechtens sei, einem Kranken, der noch 10 Minuten zu atmen hatte, das Herz wegzunehmen, um es einem andern Kranken zu geben, der noch zehrn Monate zu leben hatte, aber hier fragte keiner, ob es Rechtens sei, einem ganzen Volk von jungen und gesunden Menschen mit normalen Herzen die ganze Existenz zu nehmen.

(S. 8) ..., auf diesem Planeten, wo die Menschen Wunder tun, um einen Sterbenden zu retten, und dabei die Gesunden hundert, tausend, eine Million auf einmal umbringen.

(S. 46) Saigon steckt wie ein Messer in meinem Leben. Vielleicht weil im Angesicht des Todes jede Stunde, jedes Ding, jedes Gefühl kostbarer wird, das Essen besser, die Freundschaft stärker, die Liebe tiefer, die Fröhlichkeit fröhlicher ist.

(S. 58) Man soll den Männern sagen, warum sie sich an einem Novembermorgen hatten sammeln müssen auf halber Höhe eines Hügels namens 875, dann die Messe anhören, dann die Gewehre packen, dann auf einen Idioten hören, der da schrie: „Und jetzt will ich, dass ihr da raufkommt und diesen Hundesöhnen eine Lektion verpasst!“, und dann aufsteigen unter einer Feuerwalze und sterben, mit achtzehn, zwanzig Jahren auf ein paar Metern Erde, die einige Tage danach doch wieder aufgegeben werden.

(S. 60) Im übrigen hat es keine Kultur gegeben, keine einzige, die imstande gewesen wäre, den Krieg aus der Welt zu schaffen. Nimm dich die letzte, die berühmte, wunderbare, auf Liebe gegründete christliche Kultur. Sie hat mehr Kriege zustande gebracht als alle anderen zusammengenommen. In Christi Namen segnen die Geistlichen Fahnen und Truppen vor dem Kampeinsatz.

(S. 72) Aus einem Interview, eines Vietkonghäftlings:
 „Und gefiel es dir, Nguyen Van Sam?“ (Das Leben vor dem Krieg, ein Leben als Reisbauer)
„O ja es war schön! Es war schön, weil es so schön ist, ein freier Mensch zu sein auf den Feldern und in den Wäldern. Und wenn du mich jetzt fragst, was ich mir vom Leben wünsche, ich möchte wieder Bauer sein und Büffel und Hühner heranziehen und einen Obstgarten haben, denn von einem Obstgarten hat man am meisten, und überhaupt ist das Land das schönste von allem. Das Meer ist auch schön, weißt du. Das Meer habe ich gesehen, als sie mich in den Norden schickten; ich fuhr mit dem Schiff und habe den Strand gesehen, er ist ganz weiß und glatt. Aber vorm Meer bekomme ich fast Angst, weil es da keine Bäume gibt, und eine Welt ohne Bäume ist in meinen Augen keine Welt. Vor meinem Tod mochte ich noch einmal einen Sonnenuntergang inmitten der Bäume sehen, Weißt du, wenn die Sonne rot wird und herunterfällt, verschluckt von den Bäumen, und die Reisfelder grün sind und ein leichter Wind die Spitzen der Reispflanzen umbiegt.“

(S. 88) Weißt du, es ist schwer zu sagen, wann ein Verdacht entsteht oder eine Liebe oder ein Gesinnungswandel. Das steckt schon in dir wie eine Krankheit, die du ja erst bemerkst, wenn sich die Symptome zeigen: Schwindel zum Beispiel.

(S. 102) Herr Zorthian ist der Meinung, Amerika erweise Vietnam einen ungeheuren Gefallen, und zwar nicht nur vom militärischen, sondern auch vom wirtschaftlichen Standpunkt aus. „Wenn dieser Krieg gewonnen ist“, sagt er, „wird Vietnam reich wie Japan, modern wie Japan und geachtet wie Japan, weil wir ihnen beibringen, seine Reichtümer auf industrieller Basis auszubeuten. Allerorts werden Fabriken entstehen, Wolkenkratzer, Autobahnen, das Mekong-Delta wird mit Florida wetteifern.“
Auf den Gedanken, dass die Delta-Bauern vielleicht gar nicht mit Florida wetteifern und nur in Frieden leben wollen mit ihren handgepflanzten, handgepflückten, mit Stäbchen gegessenen Reis, auf diesen Gedanken würde er niemals kommen. Oder er kommt vielleicht doch darauf und schenkt ihm nur keine Beachtung, weil er sie für zu große Ignoranten hält, um selber wissen zu können, wo das Gute und wo das Schlechte ist. Die Einzelheit, dass sie dies hypothetische Paradies mit der Vernichtung ihres Landes und mit dem Massaker ihrer Söhne bezahlen, übersieht er dabei völlig.

(S. 137) Weißt du, das kommt wahrscheinlich daher, dass die Menschen den Krieg als gegeben hinnehmen. Und aus der Ferne nicht daran glauben, sich nicht klarmachen, dass er existiert. So ging es mir jedenfalls, als ich mich von ihm entfernte. Eine Zeitlang glaubte ich nicht mehr daran, machte mich nicht mehr klar, dass er existiert.

(S. 140) Graham Greene hat einmal geschrieben, dass der Krieg zum großen Teil darin besteht, unbeweglich und untätig auf etwas anderes zu warten. Und das stimmt. Aber er hat nicht geschrieben, dass du dich auch während der Unbeweglichkeit nicht langweilst. Denn weißt du, im Krieg sitzt du nie als Zuschauer im Parkett, du bist immer auf der Bühne, bist immer am Geschehen beteiligt. Sogar, wenn du auf der Terrasse des Hotels Continental einen Kaffee trinkst. Es könnte ja eine Mine auf der Terrasse in die Luft gehen, eine Granate auf sie fallen, so bist du mitten in einer heroischen Atmosphäre und zu einer stetigen Aufmerksamkeit gezwungen, die jede Art von Langeweile ausschließt. Und eben das war es, was mir wieder in New York fehlte, wo die Tage in atemloser Eile dahinrasen, vollgestopft mit Problemen, Verabredungen, Öde. Es ereignet sich nichts Außergewöhnliches in New York, nichts Unvorhergesehenes. Ich fühlte mich wie eine Ameise, verloren unter Millionen anderen Ameisen; aktiven, organisierten, doch ohne Verdienst am eigenen Überleben. Die Fenster, die ich von meinem Fenster sehe, gleichen eines dem anderen. Das Gas in meinem Herd zündet sich von selbst an und braucht kein Streichholz. Meine Freunde sind gut und gesittet und durch eine Lebensversicherung geschützt.

(S. 159) Sogar dies niederzuschreiben, sträubt sich alles in mir. Als, vor einer Woche ertappten die Koreaner in Cholon einen kleinen vietnamesischen Jungen, der sich in ihr Lager geschlichen hatte, um Lebensmittel zu stehlen. Sie ergriffen ihn und brauchten volle vierundzwanzig Stunden, bis er tot war. Weißt du, auf welche Weise? Sie pfählten ihn. Ja, genau das habe ich geschrieben: Sie pfählten ihn. Er war acht Jahre alt.
Gott, warum tun Menschen so etwas. Menschen mit zwei Armen und zwei Beinen und einem Herzen. Menschen, die man für normal ansieht, für geistig zurechnungsfähig. Geschieht dergleichen mitten im Frieden, schreit die ganze Welt vor Entsetzen auf, Gerichte kümmern sich um den Fall, Geistliche, Psychiater. Geschieht dergleichen im Krieg, macht sich keiner etwas daraus, und keiner ruft nach Gerichten, Geistlichen Psychiatern. Keiner spricht das Wort Verrücktheit, keiner das Wort Mord aus. Und die Menschen fliegen zum Mond, die Menschen heilen Krebs, die Menschen sind ja so stolz, dass sie Menschen sind und nicht Bäume oder Fische. Es gibt Augenblicke, da wäre ich lieber als Baum oder als Fisch auf die Welt gekommen.
(S. 163) Am erstaunlichsten ist, dass die übrige Welt wegen der Bombardements in Norden protestiert, auf Hanoi, auf Haifong. In der übrigen Welt zetern sie gegen die Atombombe. Diese Heuchler. Als ob fünfzig Napalms zu je siebenhundertfünfzig Kilo oder hundert „normale“ Bomben zu je tausend Kilo nicht das gleiche Resultat wie eine Atombombe hätten. Weißt du, wie viele Menschenleben vernichtet wurden in den letzten zehn Tagen allein in Saigon? Zehntausend. Man beginnt damit, sie zu begraben. Auf Anweisung der Gesundheitsbehörde. In diesen Massengräbern. Unidentified bodies sagt man. Weil sie keinen Vornamen haben und keinen Nachnamen, weil sie gestorben sind und Schluss. Und ihre Kameraden, ihre Angehörigen werden sie nie finden können.

(S. 168) In dieser Aussiebung sind ja die Kinder nicht inbegriffen, und wir wissen doch, dass die Kinder eine entscheidende Rolle in der Tet-Offensive gespielt haben. Jede Vietkong-Kompanie hatte mindestens drei Kinder eingestellt, damit sie dicht an den amerikanischen Lagern spielen und auf Truppenbewegungen und Art der Waffen achten sollten. Die Kinder schrieben das alles auf kleine gelbe Zettel und befestigten diese an Bäumen und Zäunen, Demjenigen, der ein Kind denunziert, bietet Loan (Polizeiführer) eine Belohnung von zehntausend bis zu einer Million Piaster. Aber es hat sich keiner gemeldet.

(S. 212) Barry Zorthian fragt Oriana Fallaci:
“Warum bist du dann hergekommen?”
„Weil, Barry ... Nun, ich könnte dir antworten, weil ich an meinen Beruf glaube, an das Moralische in meinem Beruf. Das wäre eine Antwort, und es ist wohl auch eine. Ich könnte sagen, weil ich denjenigen den Krieg erklären will, die ihn nicht kennen. Das wäre eine andere Antwort, und es ist wohl auch eine. Aber der eigentliche Grund ist ein egoistischer: Ich bin hier im Krieg, weil ich ihn begreifen will. Man wird stets von Dingen oder Menschen angezogen, die man nicht begreift.“

(S. 212 f) Weißt du, es war, als spräche er zu einem Kind, das man belehren muss, und natürlich belehrte er es gern, weil er an die Demokratie und Freiheit glaubte, weil er die Meinungen anderer achtete und bereit war, irrige Ansichten richtig zustellen mit Logik und nicht mit Gewalt, denn er war ja Amerikaner und wollte mir beweisen, dass die Amerikaner tolerant sind und gut, deshalb führten sie ja die Kriege, sei es in Vietnam oder Korea oder auch in Europa, und ich solle Europa nicht vergessen, wer sei denn nach Europa gekommen, um uns den Klauen der Nazis zu entreißen, wenn nicht die Amerikaner und mit ihnen er selbst, Barry Zorthian, auch wenn es damals im Pazifik sein Leben für Demokratie und Freiheit eingesetzt habe. Als Vorwort war das ein bisschen lang. Und nach diesem Vorwort erklärte er, dass Pazifist oder Christ zu sein im Hinblick auf den Vietnam-Krieg eine Art Verrat gegenüber den Vereinigten Staaten von Amerika darstellte, die mir erlaubten, in Vietnam zu sein, und dass dieser Verrat Besorgnis errege, wenn das Mitleid für einen getöteten Marine auch zum Mitleid für einen getöteten Vietkong werde, denn ein Vietkong ist ein Feind.
Also erwiderte ich ihm, dass sein Fein nicht unbedingt auch mein Feind sein müsse, dass ein Marine oder ein Vietkong für mich ein und dasselbe sei, das heißt ein Mensch mit zwei Armen und zwei Beinen und einem Verstand und einem Herzen, und es gäbe zwischen beiden nur den Unterschied, dass der Vietkong in seinem Land sei und der Marine nicht, und dass der Vietkong sein Land verteidige und der Marine nicht. Doch je einfacher und selbstverständlicher meine Rede war, um so weniger begriff er sie.

(S. 222) Das schöne Hué. Die schönste Stadt Vietnams. Man nannte sie das Florenz Asiens. Am Meer gelegen und liebkost vom Fluss der Düfte, war es ein Anziehungspunkt für Wissenschaftler und Touristen. Hauptstadt zur Zeit der Kaiser, die es Jahrhunderte lang durch Tempel, Brücken, Denkmäler, Gärten immer kostbarer gemacht hatten.
Und auf diese Tempel, Brücken, Denkmäler, Gärten fällt nun General Abrams Feuer herab. Gestern fragten wir Zorthian: „Was tun die Amerikaner, um die künstlerischen und historischen Güter von Hué zu retten?“
Zorthian antwortete: „Die amerikanischen und südvietnamesischen Offiziere haben sich alle Mühe gegeben, die historischen Güter zu retten und haben aus diesem Grund keine größere Offensive ausgelöst. Da aber der Feind die historischen Güter als Schlupfwinkel benutzt, sind die amerikanischen und sudvietnamesischen Offiziere gezwungen, auch diese zu beschießen.“

(S. 223) Im Krieg ist es Verrat, sich als Christ zu fühlen, und der gleiche Verrat, Schönheit und Kultur zu lieben. Wir werden eine Menge Supermarkets in Hué errichten und eine Menge Wolkenkratzer für die Hotels des Herrn Hilton und eine Menge Garagen für die Autos des Herrn Ford, und sonst?
Ja, gewiß: Schulen, Krankenhäuser und Museen, wie die in Hiroshima ...

(S. 240 f) Ein französischer Priester, fragt Oriana Fallaci:
„Sagen sie Madam, sie leben doch in der übrigen Welt. Denken den die Menschen in der übrigen Welt daran?“
„Ich glaube nicht, mon Pére.“
„Machen sie es sich den gar nicht klar?“
„Nein, sie machen es sich nicht klar!“
„Natürlich! Wenn wir glücklich sind, können wir uns nicht vorstellen, dass andere unglücklich sind. Und umgekehrt. Wenn wir unglücklich sind, können wir uns nicht vorstellen, dass andere glücklich sind. Wenn ich daran denke, dass jetzt in Paris ... Wieviel Uhr ist es jetzt in Paris?“
„Neun Uhr morgens, mon Pére ... Hier ist es fünf Uhr nachmittags.“
„Nun Uhr ... Und die Kinder gehen zur Schule, die Angestellten ins Büro, die Strassen sind voller Busse und unbeschädigter Autos. Und in einer vornehmen Kirche wird das Totenamt für einen Herrn zelebriert, der im Alter von neunzig Jahren im Schlaf verstorben ist. Kann so etwas sein?“
„Ja, mon Pére.“
„Und in einem gutausgestatteten Krankenhaus rettet ein Chirurg einen Schwerkranken, der den Rest seines Lebens im Bett verbringen wird. Um ihn herum stehen Ärzte und Krankenschwestern und hochkomplizierte Apparaturen und Computer. Alles wegen eines einzigen Menschen ... Kann das sein?“
„Ja, mon Pére.“
„Und hat sich ein bisschen Stuck vom Plafond der Opera gelöst, untersuchen es Scharen von Fachleuten, Arbeitern, Architekten mit besorgter Miene. Man lässt Frankereichs besten Restaurator kommen ... Kann das sein?“
„Ja.“
„Aber was für einen Sinn hat es denn, ein bisschen Stuck zu retten oder einen Menschen, der den Rest seines Lebens im Bett verbringen wird, wenn man doch zulässt, dass eine ganze Stadt zerstört, eine ganze Generation ermordet wird. Die Menschen sind wahnsinnig, Madame! Wahnsinnig!“

© Oriana Fallaci

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