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  8. Januar 2004
Graf Battistello von Luang Prabang
der neunte  Brief

Meine liebe Claire

Vor mir liegt ihr lieber Brief. Ich habe ihn wieder und wieder gelesen. Nun ist mir so, als hätten sie zu mir gesprochen und ich wundere mich, dass sie mir nicht gegenübersitzten, so sehr spüre ich aus den Zeilen ihre ganze Anwesenheit heraus.
Draußen vor dem Fenster, hat die lange Januarnacht begonnen. Der Vollmond erhellt den Park und ich blicke hinaus zu den Eichen. Die weißen Kieselsteine leuchten auf dem Weg und ich muss an das Märchen von Hänsel und Gretel denken, als Kind schien es mir töricht, dass sie weiße Kieselsteine mitnahmen um den Weg nach Hause zu finden. Es schien mir wie ein Wunder, dass die Kieselsteine ihnen den Weg durch die Nacht nach Hause wiesen. Wenn ich jetzt das leuchten des Kiesweges sehe, dann weiss ich wie klug sie waren.
Meinen Weg nach Hause finde ich immer wieder durch die Worte, besonders dann wenn ich einen Brief schreibe. Ich weiss, wenn ich zu schreiben beginne nie wo ich hin gelangen werde, wohin meine Gedanken mich führen, wenn ich sie freilasse und auf den Weg zu ihnen schicke.
Sie schreiben das sie keinen Trost für ihre verehrte Mutter hatten, als sie am Weihnachtsabend vor ihrem Schreibtisch saß und nun endlich die Zeit hatte, an ihre lieben Freunde Briefe zu schreiben. Etwas was ihr der geschäftige Alltag einer jungen Mutter und später einer liebenvollen Großmutter, stets verweigert hatte. Jetzt nach dem auch die Enkelkinder ihrer nicht mehr bedürfen, hatte sie die Zeit um zu schreiben. Nun aber musste sie feststellen, dass die meisten Freunde an die sie ihre Briefe endlich voll Muße richten könnte, gegangen waren. Ihre Lebenszeit ausgehaucht, wie eine Kerze im aufkommenden Sturm.
Auch ich habe keinen Trost für ihre liebe Frau Mutter.
Die Bestürzung und die Trauer die sie empfunden hat, kamen durch ihre Zeilen, zusammen mit der vertrauten Handschrift, bis zu mir und bang zähle auch ich die Häupter meiner Lieben. Die Reihen sind noch dicht und ich muss keinen meiner Vertrauten missen. Das Alter ist noch auf meiner Seite und ich fürchte mich nicht. Dennoch wird man Ende dreißig, Anfang vierzig, für diese Gedanken empfänglich und man denkt darüber nach. So wie ich es jetzt tue.
Es ist wahr das wir in der Mitte des Lebens das Wesentliche noch arglos unberücksichtigt lassen. Wir glauben daran, dass wir nicht zu verwunden sind, durch die zarte Waffe der Zeit, doch wir beginnen ihre Strenge und Kühle zu ahnen.
Diese Januarnacht hat etwas endgültiges, zeitloses, schwer vorstellbar, dass Morgen ein neuer Tag beginnen wird. Doch genau so wird es sein. Diese Gewissheit kann ein großer Trost sein, haben sie davon gewusst, meine liebe Claire?
Was aber sagt man einem Menschen, der dies weiss und sein Leben mit der Zuversicht auf Morgen, vertrauensvoll gelebt hat?
Vorbei!  Ich bin nicht sicher ob die Toten wirklich um die Gedanken wissen, denen die Lebenden oft in Melancholie verfallen. aber auch Freude darüber sie lebend gekannt zu haben. Gemeinsam Erlebtes wie kostbare Perlen zu betrachten, ist allein den Lebenden gegeben.
Das Laub vom vergangenen Herbst unter den Eichen, scheint mir plötzlich wie Briefe aus dem Totenreich und mir wird kalt, im Wintergarten, hinter den dicken Scheiben. Vielleicht schaut einer der Gegangenen zu mir herein und beneidet mich, um das Blut das durch meine Adern fließt, um die Behaglichkeit eines warmen Zimmers. Vielleicht fragt er sich was er tun würde, säße er an meiner Stelle hier. Ob er sein Gedächtnis um die Erinnerung des Geschmacks eines wohltemperierten Rotweines bemüht? Vielleicht versucht er aber seine ganze Gedankenkraft auf meine schreibende Hand zu richten, um ihr Worte zu entlocken, die nicht meine sondern Seine sind. Wie trostlos, wenn der Tod die Erinnerung an alle Versäumnisse lebendig hält und dort draußen wirklich jemand steht, der meine Hände benutzen will um nie gesagte Worte an seine Frau, oder die Kinder zu schreiben, oder einem anderen lieben Menschen, dem er sich zu Lebzeiten nie erklärte. Stets auf den richtigen Zeitpunkte wartete und doch immer verpasst hat.
Schon habe ich Mitleid, mit dem vor meinem Fenster, der nur in meiner Phantasie existiert.
Ach Claire, wohin führt mich diese Reise auf dem Papier?
Zu ihnen und immer zu ihnen!

Ich habe aus der Bibliothek einen der Goethebände geholt. Ich habe den West-östlichen Divan, auf S. 90 aufgeschlagen, das Buch Suleika. Ich zitiere:

Musst nicht vor dem Tage fliehen:
Denn der Tag, den du ereilest,
ist nicht besser als der heut'ge;
Aber wenn du froh verweilest,
wo ich mir die Welt beseit'ge,
um die Welt an mich zu ziehen,
bist du gleich mit mir geborgen:
Heut ist heute, morgen morgen,
und was folgt und was vergangen,
reißt nicht hin und bleibt nicht hangen.
Bleibe du, mein Allerliebstes;
Denn du bringst es, und du gibst es.

So ziehe ich die Welt zurück zu mir und das Mondlicht ist wieder Mondlicht. Ihr langer Brief kündet wieder von ihrer Nähe, davon wie sehr sie bei mir waren, als sie die Seiten mit ihrer so vertrauten Handschrift zierten.
So wie auch ich die ganze Zeit bei ihnen war und ich werde es noch sein, wenn die Feder zur Seite gelegt ist und die drei Bögen Papier, gefaltet.

Meine Gedanken sende ich ihnen, bei ihnen weiß sind sie wohl aufgehoben.
Hochachtungsvoll
Graf Battistello von Luang Prabang




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Graf Battistello von Luang Prabang schreibt seit 2002, seine nachdenklichen Briefe an Claire.
Die meiste Zeit lebt er in Berlin, in einer großzügigen Stadtvilla.
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