Wenn du wissen willst, was ich gerade lese, dann findest du an dieser Stelle
einen aktuellen Buchauszug.
Folgendes Buch habe ich am 7. März 2004 angefangen.
Ben Okri:
Die hungrige Straße
Roman
dtv 1995
AM ANFANG war der Fluss. Der Fluss
wurde zu einer Straße, und die Straße verzweigte sich über
die ganze Welt. Und da die Straße einst ein Fluss war, war sie immer
hungrig.
In jenem Land des Anfangs mischten
sich die Geister unter die Ungeborenen. Wir konnten zahlreiche Formen annehmen.
Viele von uns waren Vögel. Wir kannten keine Grenzen. Es wurde viel
gefeiert, gespielt und geklagt. Wir feierten viel wegen der schönen
Schrecken der Ewigkeit. Wir spielten viel, weil wir frei waren. Und wir
klagten viel, weil unter uns immer jene waren, die gerade aus der Welt
der lebenden zurückgekehrt waren. Sie waren untröstlich über
all die Liebe, die sie zurückgelassen, all das Leid, das sie nicht
wieder gut gemacht, all das, was sie nicht verstanden, und über all
das, was sie kaum zu lernen begonnen hatten, bevor sie in das Land des
Ursprungs zurückgeholt worden waren.
Nicht einer von uns freute
sich darauf, geboren zu werden. Wir mochten die Härte des Daseins
nicht, die unerfüllten Sehnsüchte, die eingezäunten Ungerechtigkeiten
der Welt, die Labyrinthe der Liebe, das Unverständnis der Eltern,
die Unausweichlichkeit des Sterbens und die erstaunliche Gleichgültigkeit
der Lebenden inmitten der einfachen Schönheit des Universums. Wir
fürchten die Herzlosigkeit der Menschen, die alle blind geboren werden
und von denen nur wenige jemals sehen lernen.
Unser König war ein wundervolles Wesen, das manchmal in Gestalt einer großen Katze auftrat. Er hatte einen roten Bart und grüne Saphiraugen. Er war unzählige Male geboren worden, war in allen Welten eine Legendes und unter hundert verschiedenen Namen bekannt. Es spielte keine Rolle, in welche Verhältnisse er hineingeboren wurde. Er führte immer ein ganz und gar außergewöhnliches Leben. Würde man sich in die großen unsichtbaren Bücher der Lebensschicksale vertiefen, so könnte man sein Genie in allen belegten und unbelegten Zeitaltern erkennen. Bald als Mann, bald als Frau, vollbrachte er in jedem Leben unvergleichliche Taten. Wenn irgend etwas all seinen Leben gemeinsam war, das Wesentliche seines Genies, dann war es wohl die Liebe zur Verwandlung und die Verwandlung von Liebe in höhere Wirklichkeiten.
Im Kreis unserer Geistergefährten,
im Kreis jener, die uns besonders nahe standen, waren wir die meist Zeit
glücklich, weil wir auf der aquamarinblauen Luft der Liebe schwebten.
Wir spielten mit Faunen, Feen und schönen Wesen. Zärtliche Seherinnen,
gütige Elfen und die heiteren Geister unserer Ahnen waren immer bei
uns und tauchten uns in den Glanz ihrer bunten Regenbögen. Es gibt
viele Gründe dafür, dass Babys schreien, wenn sie geboren werden,
und einer davon ist die plötzliche Trennung von der Welt der reinen
Träume, in der alle Dinge voll Zauber sind und es kein Leid gibt.
Je glücklicher wir waren,
desto näher war unsere Geburt. Wenn uns wieder einmal eine Inkarnation
bevorstand, schlossen wir einen Pakt, bei der ersten Gelegenheit in die
Geisterwelt zurückzukehren. Diese Gelöbnisse legten wir in Feldern
mit farbenfrohen Blumen und im lieblichen Mondlicht jener Welt ab. Jene
von uns, die solche Gelöbnisse ablegten, wurden von den Lebenden abiku
genannt, Geisterkinder. Nicht alle Leute erkannten uns. Wir waren jene,
die kamen und gingen und die nicht bereit waren sich auf das Leben einzulassen.
Wir hatten die Fähigkeit, unseren Tod zu erzwingen. Unser Pakt war
verbindlich.
Jene, die den Pakt nicht hielten,
wurden Opfer von Halluzinationen und von ihren Gefährten verfolgt.
Sie fanden erst Trost, wenn sie wieder in die Welt der Ungeborenen zurückkehrten,
an die Wasserstellen, wo jene, die sie liebten, stumm auf sie warteten.
Jene von uns, die durch die Ankündigung wundervoller Ereignisse der
Verlockung erlegen waren, noch auf der Welt zu bleiben, gingen mit schönen,
dem Untergang geweihten Augen durchs Leben und trugen die Musik einer wunderbaren,
tragischen Mythologie in sich. Unsere Münder stoßen dunkle Weissagungen
aus. Unsere Sinne werden von Zukunftsbildern heimgesucht. Wir sind die
seltsamen Geschöpfe, deren ein Hälfte immer in der Geisterwelt
bleibt.
© Ben Okri
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